Niemand soll einsam sterben

Sterbende auf ihrem letzten Weg zu begleiten, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Pflegefachfrau Evelyn Zuber-Blum und Seelsorger Andreas Käser sprechen über Sterbebegleitung im Sune-Egge.

Sterben ist in unserer Gesellschaft ein Tabuthema. Wir reden nicht gerne darüber, auch wenn es zum Leben gehört. Warum?
Evelyn: Das Thema macht Angst. Vor 100 Jahren lebte man eher noch in Grossfamilien und man war dabei, als die Grosseltern starben. Heute hat man keinen persönlichen Bezug mehr dazu, das Thema ist fremd, entsprechend fühlt man sich unsicher.
Andreas: Zudem macht der drohende Autonomieverlust Angst, der mit dem Sterben einhergeht.

Spielt es angesichts des Todes eine Rolle, dass die Menschen nicht gelernt haben, über den Tod zu reden?
Andreas: Ob es einfacher wäre, mit Menschen über das Sterben zu reden, wenn sie schon zu Lebzeiten darüber zu reden gelernt hätten, weiss ich nicht.
Evelyn: Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass Sterbende spüren, dass sie immer weniger Selbstbestimmung haben. Krankheit, Schmerz und Kraftverlust schränken den Bewegungsradius ein. Unwirsche Äusserungen, Wut und Tränen sind Ventile, mit dem Druck umzugehen.

Was ist in der Palliativpflege anders als in der normalen Krankenpflege?
Evelyn: In der Krankenpflege ist die Gesundung das Ziel. Bei einem sterbenden Menschen kann dieses Ziel nicht mehr verfolgt werden. Es geht also darum, das Sterben möglichst schmerz- und angstfrei zu gestalten. Medikamente sind vom Medizinischen her wichtig. Weil Schmerzen und Angst aber nicht nur somatisch ausgelöst werden, haben seelische und psychische Begleitung eine zentrale Funktion. Da spielen neben dem Zuhören und dem Gespräch auch Aspekte wie Berührung, Wärme, Ruhe, Empathie, Düfte, Musik oder Stille eine Rolle – verbale und nonverbale Kommunikation. Es geht dabei darum, die Bedürfnisse jedes Sterbenden zu erkennen und sie so gut wie möglich zu erfüllen.
Andreas: Wir wollen dem Sterbenden einen guten, aber auch versöhnlichen letzten Teil seines Lebenswegs ermöglichen. Gerade Letzteres erleben wir immer wieder. Viele Menschen, die ich begleite, haben das Bedürfnis, Ungeklärtes zu klären. Sie wollen mit sich und ihrem Leben ins Reine kommen und versöhnt gehen.

Hat die Sterbebegleitung euch selbst etwas gelehrt?
Evelyn: Oh ja, ganz vieles. Bemerkenswert finde ich als gelernte Hebamme, dass Sterbende erstaunlich vieles mit Neugeborenen gemein haben. So nehmen Sterbende oft die Embryonalstellung ein. Eine andere Parallele lässt sich am Beispiel eines 50-jährigen Mannes aufzeigen, den ich begleitete. Obwohl er aus Schnabeltasse oder Glas trinken konnte, bevorzugte er den Schoppen. Eine Frau, die ich als sehr verschlossen kannte, wurde äusserst emotional, als ich ihr mit einer Spieluhr ein Lied vorspielte. Es war offenbar das Schlaflied ihrer Kindheit.
Andreas: Ich entsinne mich eines Mannes, der nur Ruhe fand, wenn ich die Spieluhr eines Plüschtiers laufen liess.

Haben Sterbende ein grosses Bedürfnis zu reden? 
Evelyn: Das ist so individuell wie das Sterben letztlich überhaupt. Es gibt Menschen, die verstummen, andere reden noch bis zum letzten Atemzug. 
Andreas: Ja, und nicht nur Nettes. Ein Mann, den ich von der Gassenarbeit her bestens kannte und der zu Lebzeiten ein Polderi war, herrschte mich noch kurz vor seinem Tod an. Das verstand ich nicht, denn zuvor schien es, als habe ihn der nahe Tod milde gestimmt. Erst später wurde mir bewusst, dass es seine ureigene Art war, sich von mir zu verabschieden.

Fragen viele Sterbende nach einem Pfarrer oder wollen angesichts des Todes beten?
Evelyn: Gefragt wird weniger nach dem Pfarrer, eher nach einer Vertrauensperson, weil sie auch zu Lebzeiten keinen Kontakt zur Kirche hatten. Sie fragen also z.B. nach Andreas, dem sie vertrauen.
Andreas: Oder nach Evelyn, die bei ihnen ist, auch wenn alle anderen sich nicht mehr blicken lassen. Sie wollen einem etwas anvertrauen, ein Musikstück hören oder eine Kerze entzündet sehen. Aber es gibt schon jene Momente, wo Religiöses hervorbricht. Oft wünschen sich Sterbende, dass ich mit ihnen bete. Einmal wollte ein Mann, der sehr unruhig war, dass ich ihm Psalmen vorlese. Ich las und las, bis mir der Mund trocken wurde und ich kaum mehr sprechen konnte. Für ihn aber war es offenbar wichtig, denn irgendwann schlief er ein und atmete ruhig.

Wie geht ihr beide damit um, dass ihr Vertrauensleute 
der Sterbenden seid und nicht über alles reden dürft, Stichwort: Seelsorgegeheimnis?
Evelyn: Ich führe ein Tagebuch. Und beim Verarbeiten hilft mir die Musik: Ich höre sie, spiele Cello und Gitarre und singe in einem Chor. Und bisweilen erzähle ich z.B. meinen Eltern etwas in anonymisierter Form.
Andreas: Mir hilft die Ruhe in der Natur: beim Fischen, beim Wandern oder beim Beten.
Evelyn: Zudem hilft die Berufserfahrung.
Andreas: Absolut.

Wie arbeitet ihr zusammen, wenn ihr euch am Sterbebett kaum je gleichzeitig seht?
Evelyn: Wichtig sind die Übergaben. Und wenn wir uns nicht sehen, schreiben wir uns per Mail.
Andreas: Das betrifft uns beide, aber auch den Arztdienst, die Küche, den Hausdienst und den Sozialdienst. Im Sune-Egge funktioniert die Zusammenarbeit aller in die Palliativbetreuung Involvierten hervorragend; es ist für mich jedes Mal wieder eine Freude, dies festzustellen. Weil es für die Sterbenden ein Zeichen der Wertschätzung ist.

• Interview Walter von Arburg 

Evelyn Zuber-Blum ist seit 2014 im SWS tätig. Sie ist Pflegefachfrau mit Weiterbildungen in Sterbe- und Trauerbegleitung. 
Andreas Käser ist reformierter Seelsorger und arbeitet seit 2011 im SWS. Er hat schon zahlreiche Sterbende begleitet.