Rund 20ʹ000 Schritte gehen wir jeden Tag auf Randständige zu

Die Sunestube ist Gassencafé, aber auch Ausgangspunkt für unsere Gassenarbeit. Von hier aus machen sich SWS-Mitarbeitende auf die Suche nach Notleidenden, dorthin, wo sie gerade sind: in Parks, Strassen und Hinterhöfen.

Schwere Wolken wabern über den Dächern der Stadt. Der Dauerregen lädt nicht eben zum Verweilen im Freien ein. Entsprechend wenigen Menschen begegnen Rémy und Tom, den beiden heute diensthabenden SWS-Gassenarbeiter, auf ihrer Tour. Doch das ist kein Nachteil, wie Rémy betont: «So fällt es uns einfacher, Obdachlose zu finden. Denn nur sie halten sich jetzt noch draussen auf.»

Heute sind die beiden im Kreis 4 unterwegs. Zu Fuss. Wie fast immer. «Wenn wir in weiter entfernte Stadtteile wie etwa nach Oerlikon oder Schwamendingen wollen, nehmen wir den ÖV», sagt Rémy. Sonst aber sind die Gassenarbeiter Rémy, Tom, Christine und Samuel zu Fuss unterwegs. «Laut Schrittzähler meines Handys mache ich täglich rund 20‘000 Schritte. Habe aber auch schon 30‘000 gemacht.» Tom nickt vielsagend: «Als ich mal mit Segeltuchschuhen auf die Tour ging, taten mir nachher die Füsse weh.»

An der Langstrasse herrscht Flaute. Kein Wunder bei diesem Wetter. In einer Seitenstrasse sitzt ein bärtiger Mann auf einer Sitzbank. Rémy will wissen, wie es dem Mann geht und ob er etwas benötigt. Soweit alles okay, kein Bedarf. Der Bärtige ist mit wenig zufrieden. In einem Park treffen die Gassenarbeiter auf weitere Bekannte aus dem Obdachlosenmilieu. Auch hier kommt es zu einem munteren Gespräch. Über das Wetter, die Bierpreise und den umgebauten Brunnen im Park. «Für uns ist wichtig, mit den Menschen in Kontakt zu bleiben», erklärt Tom. Nicht immer komme es zu tiefschürfenden Gesprächen. «Die lassen sich nicht erzwingen. Die Leute müssen dafür bereit sein. Und wir müssen aufmerksam sein und spüren, was im Moment möglich ist und was nicht.» Aber selbst Smalltalk ist nicht selbstverständlich. Das muss Rémy heute erfahren, als sie auf einen weiteren Bekannten treffen. Schon von Weitem ist er zu hören. Als Rémy grüsst, schnauzt ihn der Mann an. Sein Blick ist unruhig. Unvermittelt blafft er imaginäre Passanten an, um dann kopfschüttelnd und schimpfend weiterzugehen.

«Wir begegnen immer mehr Randständigen mit psychischen Problemen», sagt Tom. Als erfahrener Sozialbegleiter beobachtet er diese Entwicklung mit Sorge. Weiter geht es zum Helvetiaplatz. Dort wollen Rémy und Tom einen obdachlosen Hundehalter treffen, mit dem sie sich verabredet haben. Einige Tage zuvor war dessen Hund verschwunden. «Unglückliche Umstände», wie er später betont. Was man ihm, der aktuell bei einer Freundin, sonst aber im Wald wohnt, abnimmt. Erfahrungsgemäss haben Obdachlose ihre Hunde gut im Griff. Die Polizei jedenfalls fing den Hund ein und brachte ihn in ein Tierheim. In Absprache mit Mirjam Spring, der Leiterin unseres Gassentierarztprojekts, wollen Rémy und Tom mit dem Obdachlosen zusammen dorthin fahren und den Hund auslösen. Zum vereinbarten Zeitpunkt ist der Mann jedoch nicht am Treffpunkt. Ein Handyanruf bringt Klarheit. Er hat das Tram verpasst. Anschliessend fährt das Trio hinaus zum Tierheim. Wo unser obdachloser Freund von seiner vermissten Hündin überschwänglich begrüsst wird. Wenigstens ein Happy-End an diesem trüben Tag. • Walter von Arburg