Geborgen und sicher

Corona macht klar, wie zerbrechlich unsere Normalität ist. Und was Nächstenliebe heissen kann. 

Elsa führte einen kleinen Coiffeursalon. Einen Stuhl in Räumlichkeiten, die sie mit anderen Berufskolleginnen teilte. Oft schon um halb sieben morgens bediente sie den ersten Kunden, arbeitete sechs Tage in der Woche, meist bis weit in den Abend hinein. Fleissig, tüchtig, immer freundlich. Ihre Kunden vertrauten ihr vieles an, sie hörte zu, nahm Anteil. Mit dem, was sie verdiente, zahlte sie Miete, Material, ihren eigenen Lohn, sorgte für ihren kranken Mann, ihre alten Eltern. Und legte dann und wann einem Ausgesteuerten etwas in die ausgestreckte Hand, kaufte eine Ausgabe des Strassenmagazins Surprise und legte diese vor ihrem Coiffeurstuhl auf. «Dä da obe», pflegte sie zu sagen, «het mi ou no nie vergässe.» 

Dann kam Corona, und von einem Tag auf den anderen war alles anders: Sie musste ihren Stuhl aufgeben, hatte keine Kunden mehr, keine Einnahmen, keine Gespräche, keine Kontakte. Das Ersparte würde nicht weit reichen. Über Nacht fand sich Elsa auf Augenhöhe mit Menschen, die schon länger um Brot und Existenz kämpfen müssen, den Sur­prise-Verkäufern, den Ausgesteuerten. «Ich hätte nie gedacht, dass es mit mir einmal soweit kommen könnte.» 

Ein Satz, eine Erkenntnis, die wir in diesen Tagen oft hören. Elsa ist nicht allein. Immer häufiger werden unsere Anlaufstellen von Menschen aufgesucht, die sich nie hätten vorstellen können, je eine Sozialberatung aufsuchen zu müssen, für Second-Hand-Kleider anzustehen oder eine Gratis-Mahlzeit in einem Gassencafé zu beziehen. Menschen, deren Lebensentwurf scheinbar stabil schien, und die jetzt, in der Krise, fast alles verloren haben und nicht mehr weiter wissen. Hilfe anzunehmen, fällt diesen Menschen besonders schwer. Umso wichtiger ist, dass wir ihnen auf Augenhöhe begegnen, sie als Menschen in Not und nicht als Bittsteller empfangen. Damit sie spüren, dass «dä da obe» sie nicht vergessen hat. Jetzt erst recht nicht.

• Pfr. Christoph Zingg, Gesamtleiter