Die Kurve grad noch gekriegt

Heim, Gasse, Platzspitz. René Oberlis Leben kannte nur eine Richtung: abwärts. Bis er erlebte, dass Menschen trotz allem an ihn glauben.

Heute bin ich glücklich

Glücklich, eine liebe, verständnisvolle Ehefrau und zwei wundervolle Kinder zu haben. Glücklich, ein eigenes Geschäft für Bodenbeläge zu führen. Glücklich, nach 15 Jahren in einem bürgerlichen Leben alle Schulden meines davor dramatischen Lebens beglichen zu haben. Selbstverständlich ist das nicht. Denn lange standen die Zeichen auf Sturm und Zerstörung.

Liebe als Fremdwort

Angefangen hat es früh mit der bitteren Erfahrung, dass meine Mutter nichts mit mir anfangen konnte. So landete ich als 7-Jähriger in einem Kinderheim, wo Lieblosigkeit und erbarmungslose Zucht herrschten. Nach zehn harten Jahren und vielen traumatischen Erlebnissen in der gefühlskalten Heim-Atmosphäre folgten eine abgebrochene Lehre als Flugzeugschlosser bei der Swissair und Gelegenheitsarbeiten in der Gastronomie. Dann erste Erfahrungen als Drogendealer und -konsument, bis ich Ende der 1980er-Jahre und nach viel schnellem Geld den Halt komplett verlor, abstürzte und auf dem Platzspitz landete.

An die Falschen geraten

Es passt ins Bild, dass ich dort an Scientologen geriet und in einem ihrer Zentren in Deutschland indoktriniert wurde. Vielleicht war es die Heimerfahrung, die mich zwar fast umgebracht, aber letztlich auch stark gemacht hat. Jedenfalls durchschaute ich das perfide System von Scientology und nach acht Monaten gelang mir die Flucht. Aber nicht in die Freiheit – sondern zurück ins Elend des Platzspitz. Ich war nach wie vor süchtig. Das hiess dort schlafen, essen, dealen, scheissen und leiden rund um die Uhr, Sommer und Winter.

Vom Pfarrer gefunden

Auf dem Platzspitz war es denn auch, wo ich Pfarrer Sieber erstmals begegnete. Oder eher umgekehrt. Er war es, der mich, übersät mit Abszessen, auflas und in den Keller seines Lazaretts an der Konradstrasse brachte. Sporadisch begegneten wir uns danach wieder auf dem Platzspitz. Meinen Namen konnte er sich nicht merken. Aber mein Gesicht. «Du, wie geht’s dir?», rief er jeweils schon von weitem. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, dass sich jemand ernsthaft für mich interessierte. Seine gelebte christliche Nächstenliebe versöhnte mich mit meinen wenig erbaulichen Religionserfahrungen während meiner Heimzeit. Darum unterstütze ich heute seine Stiftung nach Kräften.

Der Mut des Vertrauens

Es war wohl Fügung, dass ich auf dem Platzspitz auf eine ehemalige Freundin traf, die mich zu ihren Eltern nach Hause brachte. Diese hatten den Mut, mich Junkie bei sich aufzunehmen.
Und viel mehr: Die Mutter fädelte ein, dass ihr Mann mich als Mitarbeiter in sein Bodenbeläge-­Geschäft aufnahm! Das war ein unverdienter Vertrauensvorschuss, der mich fast umhaute.
Dies war meine grosse Chance, von den verdammten Drogen loszukommen.

Ich packte sie. Heute rauche ich nicht mal mehr Zigaretten. Bis dahin, wo ich heute stehe, war es aber ein langer, oft schmerzhafter Weg. Was mir half, quasi auf der Schussfahrt ins Verderben zu wenden? Ich habe vorbehaltloses Vertrauen erfahren. Das versuche ich meinen Kindern weiterzugeben, obschon ich selbst nie erfahren habe, was das heisst.

aufgezeichnet von Walter von Arburg

Die Lebensgeschichte von René Oberli ist im Dezember 2020 im Eigenverlag erschienen. Aufgezeichnet und mit Zusatzinformationen zu Orten und Institutionen ergänzt wurde sie von Didier Karl. Bestellt werden kann das 146 Seiten umfassende Buch via info[at]bodenbelaege-weidmann.ch. Anstelle eines Verkaufserlöses empfiehlt der Autor eine Spende an das Sozialwerk Pfarrer Sieber, wofür wir ihm herzlich danken!