Mit Empathie und Respekt
Unser Gassenarbeiter Tom und unsere Gassenarbeiterin Isa sind nachts regelmässig auf den Strassen Zürichs unterwegs.
Es ist ein kalter Novembertag, an dem sich Tom und Isa auf den Weg machen. Dick eingepackt mit Mütze, Winterjacke, guten Schuhen und einem beschrifteten Rucksack starten sie ihre Tour heute beim Stauffacher. «Aufgrund des Schnees suchen die Klienten geschützte Orte auf», erklärt Tom, der seit fünf Jahren für die Gassenarbeit unterwegs ist. Die Touren werden meist kurzfristig geplant, und die Teams sind immer zu zweit unterwegs. «Auch aus Sicherheitsgründen», fügt Isa hinzu, die seit Sommer dabei ist. Sie war einst selbst obdachlos und kennt die Lebenswelt und die Nöte Obdachloser aus eigener Erfahrung. Derzeit macht sie eine Peer-Ausbildung. Als ehedem Betroffene kann sie den Kontakt zu Obdachlosen rasch knüpfen und übernimmt so eine wichtige Brückenfunktion.
Auf der Suche nach Begegnungen
Die Route führt zuerst zum Schanzengraben und weiter zur Sihlpost beim Hauptbahnhof. Tom kennt mittlerweile viele Obdachlose und ihre bevorzugten Plätze: «Etwa ein Drittel kennen wir persönlich, ein Drittel vom Sehen und ein Drittel noch gar nicht», schätzt er. Doch heute bleibt die Suche zunächst erfolglos. «Viele halten sich bei diesem Wetter bereits in einer unserer Einrichtungen auf», weiss Tom aus Erfahrung. Im Hauptbahnhof trifft die Gassenarbeit ein erstes Mal auf zwei Männer, die Tom von früheren Begegnungen kennt. Hilfe ist diesmal aber nicht erwünscht. Die Männer weichen aus, machen einen grossen Bogen. «Wir respektieren die Bedürfnisse der Klienten», betont Tom. Hilfe anzubieten, ohne sich aufzudrängen, ist ein zentraler Aspekt der Gassenarbeit. Das Team sucht zuerst das Gespräch und gibt einen Handzettel ab, um auf die Einrichtungen des Sozialwerks aufmerksam zu machen. Hin und wieder helfen sie, wenn es darum geht, behördliche Formularen auszufüllen. Tom macht klar: «Die Regel lautet: ‘Kommt zu uns in die Einrichtungen!’» Die meisten Klienten reagieren freundlich oder neutral auf die Kontaktaufnahme. Aggressive Reaktionen sind selten. Das liegt auch an der behutsamen und rücksichtsvollen Herangehensweise der Gassenarbeit. «Wir prüfen zuerst, ob Hilfe erwünscht ist», erklärt Isa.
Kleine Gesten, grosse Wirkung
Szenenwechsel. Vorbei an üppig dekorierten Weihnachtsständen bahnen sich Tom und Isa ihren Weg ins Shopville des Hauptbahnhofs. In der Wärme des Untergeschosses liegt ein Mann schlafend auf einer Bank. Als Tom das Gespräch sucht, winkt er mit einer dankenden Geste ab. «Ich habe ihm ein Flugblatt unseres Gassencafés Sunestube hinterlassen», erklärt Tom. «Vielleicht sucht er die Einrichtung später auf.» Mittlerweile herrscht reger Feierabendbetrieb im Bahnhof. Inmitten dieser lebhaften Umgebung erkennen Tom und Isa einen gepflegt gekleideten Klienten, der in seiner Zeitung vertieft ist. Er begrüsst die beiden mit einem Lächeln und freut sich sichtlich über das Gespräch, das auf Englisch geführt wird. Für ihn scheint der soziale Kontakt wichtiger als konkrete Unterstützung. Der Flyer bleibt im Rucksack.
«Häufig schätzen die Menschen einfach das Gespräch und unsere Empathie», sagt Tom. Nur ein paar Meter weiter treffen Tom und Isa auf einen weiteren Mann, der am Stehtisch in einem Magazin blättert. Das Gespräch zwischen dem Mann und Tom dauert nur kurz und betrifft die schwierige Wohnsituation des Klienten. Isa steht ein wenig abseits und macht Notizen. «Ich dokumentiere Zeit, Ort und Details der Begegnungen für den Rapport», erklärt sie.
Zwischen Kälte und Hoffnung
Nach einem kurzen Austausch mit der Bahnhofshilfe verlassen Tom und Isa den Hauptbahnhof und begeben sich zu einem Park, wo sie einen weiteren Klienten vermuten. Spätestens beim Durchqueren der tief verschneiten Landschaft zahlt sich das gute Schuhwerk der Gassenarbeit aus. Bald darauf wird ihre Vermutung bestätigt. Ein Mann aus der Ukraine hat sich auf einer Bank eingerichtet, umgeben von Schlafsack und wenigen Habseligkeiten. Seine Sorgen um den Aufenthaltsstatus und die eisige Kälte werden mit Händen, wenigen englischen Worten und mithilfe einer Übersetzungs-App besprochen. Eine wärmere Jacke mit Kapuze wäre dringend nötig, erklärt er. Nachdem er noch kurz den Schnee auf Isas Jacke abwischt, verabschieden sich Tom und Isa. «Nun gehen wir zuerst in die Sunestube. Vielleicht hat es dort eine warme Jacke, die wir ihm gleich bringen können», sagt Tom. Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit ist der Arbeitstag der beiden noch nicht vorbei. Die Tagestouren dauern oft bis 20 Uhr. Nachts führen dann die Kältepatrouillen des Sozialwerks Pfarrer Sieber die Gassenarbeit bis um 4 Uhr weiter.
Während Isa und Tom weiterziehen, wird klar: Ihre Arbeit ist ein bedeutender Beitrag an die Gesellschaft. Sie ist ein Beweis dafür, dass selbst in den anonymen Strassen einer Grossstadt Menschlichkeit und Fürsorge ihren Platz haben.
• Michael Rohrbach, freier Mitarbeiter