Mit Optimismus
Jacqueline erlebte Zurückweisung, Gewalt und Obdachlosigkeit. Das Fachspital Sune-Egge bezeichnet sie für sich als Glücksfall.
Meine Mutter war mit uns Kindern von Anfang an überfordert. Sie liess mich spüren, dass ich unerwünscht war. Das tat weh. Dennoch verspürte ich nie Hass auf sie. Zum Vater hatte ich kaum eine Beziehung, weil er die Familie früh verlassen hatte.
Mit zwei Jahren kam ich in eine Pflegefamilie. Eine Gross-familie, die auch viele andere Pflegekinder aufnahm. Rück-blickend hatte ich es gut dort. Meine Mutter und meinen Vater konnte sie aber nicht wirklich ersetzen. Dort kam ich auch erstmals mit Pfarrer Sieber in Kontakt; er beerdigte den überraschend verstorbenen Vater der Gross-familie. Ernst Siebers Art machte mir zwar Eindruck, aber ich war noch ein Kind. So kann ich mich nicht an Einzelheiten erinnern.
Mit 15 kam ich in ein städtisches Jugendheim. Mir schwebte eine Lehre im Gastgewerbe oder dem Verkauf vor. Eine Lehrstelle fand ich nicht. Ich suchte aber auch nicht mit Nachdruck danach. Denn eine erste grosse Liebe elektrisierte mich und nahm mich ganz in Beschlag. Mit 18 jobbte ich bei McDonaldʹs. In dieser Zeit wurde ich schwanger und gebar eine Tochter. Als sie fünf war und ich einen Krippenplatz für sie bekam, konnte ich wieder Teilzeit arbeiten.
In zwei Beziehungen erlebte ich Gewalt. Rückblickend würde ich sagen, dass ich auf der Suche nach Liebe war – und, naiv wie ich war, zweimal ausgenützt wurde. Heute versuche ich, Menschen davor zu bewahren, sich aus Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit aufzugeben. Trotz dieser Erlebnisse verbitterte ich nicht. Auch nicht, als vor vier Jahren noch eine Wohnungskündigung kam, die mich obdachlos machte.
Ich liebe das Leben und bin von Grund auf optimistisch. Offenbar derart, dass ich mit meiner Zuversicht andere Menschen anstecke. Jedenfalls motivierte ich zwei Sune-Egge-Patientinnen, die schon seit Jahren im Rollstuhl sassen, aufzustehen. Es lag bestimmt nicht an mir allein – aber vielleicht ein wenig.
Der Sune-Egge ist für mich ein Glücksfall. Ich kam nach einem schweren Unfall hierher, bei dem mein linkes Bein gravierend beschädigt wurde. Dank der zuwendenden Pflege wurde ich wieder gesund. Mithilfe der Sozialberatung fand ich im Anschluss an den Spitalaufenthalt ein Zimmer in einer begleiteten Wohneinrichtung in Winterthur. Dem Sune-Egge-Team bin ich zutiefst dankbar, dass es an mich glaubte. Die Wundexpertin schenkte mir ebenso Vertrauen wie Ärzte und Pflegerinnen.
Und dann waren da die beiden Kunsttherapeutinnen. Ihnen verdanke ich Wesentliches. Weil es mir während der langen Genesungszeit langweilig war, hatte ich mich eines Tages ins Kunstatelier gewagt. Ich wollte aber zunächst nur basteln. Jana und Yvonne ermutigten mich jedoch, und ich bekam plötzlich grosse Freude am Gestalten und Malen!
Als Patientin bin ich zwar längst nicht mehr im Sune-Egge, aber das Atelier ist für mich so wichtig geworden, dass ich auch heute noch regelmässig hierher komme und male. Hier kann ich meine Lebenskräfte weiter stärken.»
• Aufgezeichnet von Walter von Arburg