Der Mensch steht im Zentrum – im Sune-Egge wie beim SWS generell

Am Rande der Gesellschaft arbeiten wir, höre ich immer wieder. Jedes Mal stolpere ich über diese Redewendung. Was mich beschäftigt, ist ihre Ortsgebundenheit. Ich rede nur vom Rand der Gesellschaft, wenn ich in der Mitte stehe. Untermauert das nicht unfreiwillig eine schiefe Ordnung, in der die ohnehin Schwachen am Rand stehen müssen?

Ich denke darüber nach und klopfe geistesabwesend auf den grossen, runden Holztisch, der leicht mitgenommen im Wohnzimmer unseres Fachspitals Sune-Egge steht. «Nussbaum», stellt Urs, der mir bislang still und in sich gekehrt gegenüber sass, trocken fest. Im Gespräch stellt sich heraus, dass Urs Schlosser war und auch mit Holz arbeitete – damals, in seinem «ersten» Leben. Ob ich ihn dafür wieder anwerben dürfe, frage ich. Da muss er zum ersten Mal lachen, und seine ganze Haltung verändert sich.

In zwei Wochen wird Urs wieder aus unserem Spital entlassen. Er ist einer der Glücklichen, die eine eigene kleine Wohnung haben. Bei uns war er, um sich neu aufzustellen. Die Sucht hatte ihn fest im Griff, und er musste sich wieder finden, sagt er. Er redet jetzt vor allem mit Luis, der mich an diesem Tag begleitet. Luis hat vor vier Jahren seine Sucht überwunden und kann Urs heute nochmals auf ganz andere Weise Halt und Hoffnung vermitteln. Ohne viele Worte, aber mit einer glasklaren Botschaft.

Ich finde ihn nicht bei uns, diesen Rand der Gesellschaft. Was ich finde, sind Menschen, die trotz schwerster biographischer Bürden aneinander Anteil nehmen und Erfolg wie Misserfolg teilen. Ich kann mir nur vorstellen, welche Kämpfe Urs in den letzten Wochen mit seiner Sucht ausgefochten haben muss. Jetzt sitzt er ruhig und mit klarem Blick am Tisch und unterhält sich mit uns über Schreinerei.

Mir kommt Psalm 139 in den Sinn. Es ist ein Psalm, der das Bild einer Mitte zeichnet, die kein Ausserhalb, keinen Rand kennt. Die betende Person versucht, einen Ort zu denken, an dem Gott nicht wäre, und legt es darauf an. Doch selbst am äussersten für sie denkbaren Ende der Welt findet sie nicht deren Rand, sondern Schutz und Geborgenheit: «Und nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äussersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.» Psalm 139 sieht keinen Widerspruch darin, alle Menschen in die Mitte zu nehmen – und vielleicht gerade diejenigen, die in der Nacht wachliegen und sich am gottverlassensten fühlen. Ich kann Urs‘ Kampf nicht für ihn kämpfen. Doch ich kann seine Hand nehmen.

• Friederike Rass, Gesamtleiterin