Das Leben neu erproben
Wir wollen den Menschen so sehen, wie Gott ihn gemeint hat.
Ich erkenne K. fast nicht wieder. Noch während wir uns unterhalten, merke ich, wie ich nach jenem K. suche, den ich kenne. K. hat einen Rückfall erlitten. Die Drogen haben ihn nicht nur ins Spital gebracht, sondern sie haben den K., den ich kannte, fast ausradiert. Totenbleich ist er, abgemagert und so fahrig, dass er den Blickkontakt kaum halten kann.
Der fehlende Glaube an den eigenen Wert und das mangelnde Vertrauen in die eigene Daseinsberechtigung können eine unheimlich zerstörerische Kraft entwickeln. Im Sozialwerk Pfarrer Sieber glauben wir an den Menschen. Auch in jenen Momenten, in denen es ihm an Glauben an sich selbst fehlt.
Unser unerschütterlicher Glaube an jeden und jede ist nicht nur Bekenntnis, sondern handfest in unseren Angeboten abgebildet. Die meisten unserer Einrichtungen sind für Menschen in Notsituationen ausgelegt. Wir bieten einen warmen Znacht, ein Bett, medizinische Versorgung, ein offenes Ohr. Es ist schwer, sich auf neue Perspektiven einzulassen, wenn man Hunger oder Schmerzen hat. Wer stabiler ist, kann in unseren Wohneinrichtungen das Leben neu erproben.
Unser Reha-Zentrum Sunedörfli schliesslich bietet Ausstiegswilligen die Möglichkeit, ein Leben ohne Suchtmittelabhängigkeit zu üben. Menschen, die mitten im Kampf aus dem Drogenelend stehen, zeigt es einen Ausweg, wann immer sie so weit sind. Das ist nicht Zukunftsmusik, sondern verändert ihre Wirklichkeit hier und heute.
Das Sunedörfli liegt an idyllischer Lage im Sihltal, mit Hühnern, Werkstatt und Wohnhäuschen. Es hilft, mit einem negativen Selbstbild zu brechen, das durch einen Rückfall oft noch bestätigt wird. Menschen an ihrem tiefsten Punkt soll es zeigen, dass wir ihnen zutrauen, ihre Abhängigkeiten hinter sich zu lassen – im Wissen darum, wie viel Kraft es kostet und dass es ein langer Weg sein kann.
K. kennt das Sunedörfli. Er wird hoffentlich wieder dorthin zurückkehren. Ich vertraue mit ihm darauf, dass seine grösste Sorge dort eines Tages sein wird, ob er das Hühnergatter richtig geschlossen hat.
• Friederike Rass, Gesamtleiterin
Symbolbild: Kostiantyn Usatenko auf Unsplash