Liebe ist stärker als der Tod

Das Leben auf der Gasse ist einsam. Unsere Seelsorge begleitet Hilfesuchende und organisiert auch würdevolle Abschiede.

Es poltert im Flur: Markus muss mit mir reden, unbedingt. Zu meinem grossen Glück und zur Erleichterung aller bin ich im Büro. Schwer fällt Markus in den Stuhl. Die Frage nach Kafi oder Wasser irritiert ihn, er ist nicht für Höflichkeiten hier – es geht um etwas. Er hält sich an einer Bierdose fest, schnauft und rutscht unruhig hin und her. Schliesslich bricht es aus ihm heraus: «Ist der Koni tot? Ich hab’s auf der Gasse gehört, aber es kann ja gar nicht sein. Gestern hab ich ihn noch vor dem Denner getroffen – er kann ja gar nicht tot sein.»

Betroffen schweigen wir. Ich biete ihm an, im Spital nachzufragen. Er nickt tapfer und steht neben mir, als der Pflegedienstleiter es mir bestätigt. Koni sei in den Abendstunden des Vortages einem Nierenversagen erlegen. So sanft ich kann, gebe ich die Nachricht weiter und weiss doch, ich kann Markus den Schmerz nicht abnehmen.

Informationen auf der Gasse nehmen selten den schriftlichen Weg. Das baut eine Unsicherheit ein, die in solchen Situationen besonders herzzerreissend ist. Todesanzeigen erscheinen, wenn überhaupt, im Amtsblatt – und häufig ist der amtliche Name der Verstorbenen weit weg von ihrem Rufnamen auf der Gasse. Auch Koni heisst eigentlich anders.

Unsere Seelsorge hat deshalb begonnen, interne Todesanzeigen zu verfassen, die das Leben der Verstorbenen jenseits ihrer amtlichen Existenz würdigen. Für jede Person gestalten sie eine individuelle Andacht, oft an unkonventionellen Orten. Immer sind Gefährtinnen und Wegbegleiter eingeladen, ihre Erinnerungen zu teilen. Der Einsamkeit des Lebens auf der Gasse hält unsere Gassenkirche eine Gemeinschaft entgegen, die an den Grenzen unseres Lebens nicht haltmacht und zugleich an diesen Grenzen verhandelt wird.

Eine solche bunte Gemeinschaft seelsorgerlich zu begleiten und zu gestalten, braucht Improvisationsfähigkeit. Da wird Abendmahl auf einem Stromkasten gefeiert, Treppenstufen werden zum Altar, und gepredigt wird gemeinsam: Die fröhlichen oder auch sehr direkten Zwischenrufe wollen ernst genommen werden.

Improvisation ist notwendig, weil sich Seelsorge nicht auf vorgefertigte Antworten zurückziehen kann. Den Menschen von seinen Grenzen her zu betrachten, heisst, sich für das Wunder seiner Unverfügbarkeit zu öffnen. Ihn und sie anzunehmen, wie sie gerade sind, im Wissen, dass der Mensch stets mehr als sein momentanes Schicksal ist. Dieses Versprechen kann neuen Boden unter den Füssen geben, wenn jeder Weg verschlossen scheint.

Markus besucht mich seit Konis Tod regelmässig – seine Bierdose hat er bei unseren Treffen seit einiger Zeit nicht mehr dabei. 

• Friederike Rass, Gesamtleiterin