Es ist nicht leicht, sich helfen zu lassen

Es ist mein Anspruch an mich, Dinge aus eigener Kraft zu schaffen. Schliesslich bin ich schon gross. Doch auch bei Zweijährigen kann ich beobachten, wie sie sich allein in ihre Jacke kämpfen wollen.

Es scheint ein Grundbedürfnis des Menschen zu sein, etwas selbst bewältigen zu wollen.  Es gibt uns ein gutes Gefühl, wenn uns etwas gelingt. Den Menschen, die sich uns anvertrauen, geht es nicht anders. Gleichzeitig sind sie häufig in Situationen, in denen sie erschöpft und zermürbt aufgeben müssen, weil sich ihnen die Widrigkeiten des Lebens mit zu grosser Macht entgegenstemmen.

Ob in unserer Notschlafstelle, im Gassencafé oder im Fachspital: Wir nehmen Menschen in solchen Notsituationen in unsere Gemeinschaft auf. Sie dürfen sich aufgefangen wissen. Doch anstatt sich nun zurückzulehnen, erleben wir jeden Tag aufs Neue, was daraus entstehen kann: Die Menschen helfen einander und sind füreinander da, im Kleinen wie im Grossen. Der eine sorgt für Ruhe im Pfuusbus, wenn es allzu hektisch wird, eine andere versorgt den Kollegen, dem die Hände zu sehr zittern, am Morgen mit Kafi. Sie ermutigen die Mitarbeiterin in Ausbildung vor ihrer Prüfung fröhlich mit nicht immer ganz ernst gemeinten Lebens-weisheiten und nehmen Anteil, wenn einer eine schlimme Nachricht erhält.

Es mag den Menschen, die sich uns anvertrauen, im Moment schwerfallen, ihr Leben entlang der Konventionen unserer Gesellschaft zu organisieren. Gleichzeitig haben sie in ihrer Rolle der Hilfsbedürftigkeit eine sehr viel weitreichendere Aufgabe inne:
«Sie sind die Helfer zur Menschlichkeit. Denn sie zwingen uns dazu, unser Selbstvertrauen nicht länger auf Gesundheit und Können zu gründen, sondern es im Gottvertrauen zu suchen.» 
So formuliert es der kürzlich verstorbene Theologe Jürgen Moltmann in einem Vortrag.

Seit ich beim Sozialwerk Pfarrer Sieber bin, macht es mir viel Freude, wenn es mir gelingt, nicht nur zu helfen, sondern Hilfe auch anzunehmen. Es ist eine Lektion in Demut, die uns auf unsere Mitmenschlichkeit verweist.  

• Friederike Rass, Gesamtleiterin