Ein Wandervogel findet heim

Isabelle kommt täglich in die Sunestube. Sie ist nicht obdachlos. Sie lebt in einer kleinen Wohnung am Stadtrand. Sie nimmt keine Drogen. Und doch fühlt sie sich unter Obdachlosen und Drogensüchtigen wohl.

Ich mag die Atmosphäre hier», schwärmt sie. «Wir bilden hier eine Schicksalsgemeinschaft ganz im Sinne von Pfarrer Sieber. Eine, die gegen die Einsamkeit hilft.» Wenn sie über die Sunestube spricht, meint man eine langjährige Besucherin reden zu hören. Dabei hat Isabelle erst vor nicht einmal drei Jahren ins Gassencafé an der Militärstrasse gefunden.

Anlass dafür gab ihre erkrankte Katze. Isabelle, die heute von der Sozialhilfe lebt, konnte sich keinen Tierarzt leisten. Da erinnerte sie sich daran, einst vom Gassentierarzt des Sozialwerks Pfarrer Sieber gelesen zu haben. «So machte ich mich auf den Weg zur Sunestube», erinnert sich Isabelle. Den Gassentierarzt fand sie zwar nicht an der Militärstrasse, wo er in den Anfängen seine Basis hatte. Dafür entdeckte sie hier das Gassencafé. Zur Leiterin, Christine Diethelm, hat Isabelle einen besonderen Draht.

Isabelle ist eine fröhliche Frau mit einem unglaublichen Optimismus. Der ist angesichts ihres turbulenten, teilweise tragischen Lebens bemerkenswert. Isabelle verlor mit viereinhalb Jahren ihre Mutter bei einem Autounfall. Mit 25 verlor sie ihr einziges Kind durch den plötzlichen Kindstod, mit 33 ihren Vater durch einen Herzinfarkt. Und auch ihr Partner erkrankte vor acht Jahren derart schwer, dass er heute in einem Pflegeheim lebt. Schwere Erkrankungen – sie scheinen eine traurige Konstante in Isabelles Leben zu sein. Vor vier Jahren wurde bei ihr selbst Krebs diagnostiziert, mit dem sie immer noch ringt. «Warum ich nie verzweifelte? Oh, ich litt und leide schon! Aber irgendwie sehe ich immer auch Positives, dafür danke ich Gott.»

Vom Sozialamt abhängig ist Isabelle erst seit vier Jahren. Nach der Hotelfachschule rackerte sie zunächst während Jahren in mehr als 20 Ortschaften der Deutschschweiz im Service, in Küchen, im Verkauf, in der Reinigung und als Zeitungszustellerin. Fast jährlich zog sie von einem Ort zum nächsten. «Ich bin ein Wandervogel», sagt Isabelle und lacht. Geld war zwar nie viel vorhanden, aber stets genug, um zu leben. Als ihr Partner erkrankte und weder Krankenkasse noch Gemeinde für seine Pflege gänzlich aufkommen wollten, übernahm sie den Pflegepart. «Wir lebten von unserem wenigen Ersparten, bis es nicht mehr ging», so Isabelle.

«Den Lockdown erlebte ich durchaus positiv. Ich telefonierte oft, genoss sonst aber die wunderbare Ruhe.» Dennoch sei sie froh, endlich wieder in die Sunestube fahren zu können. Dort hat der Wandervogel Isabelle endlich einen Ort gefunden, an dem sie wohl länger bleibt als andernorts in ihrem Leben. Weil er mehr ist als ein Gassencafé. Weil er ihr Heimat geworden ist.

• Walter von Arburg