Ein Abschied

Nach fast elf Jahren in Diensten des Sozialwerks Pfarrer Sieber hat sich Gesamtleiter Christoph Zingg entschlossen, eine neue berufliche Herausforderung anzunehmen.

Christoph, du bist Gesamtleiter mit Leib und Seele. Warum zieht es dich weiter?

Eigentlich habe ich keine neue Aufgabe gesucht. Aber eine solche hat mich gefunden. Im vergangenen Herbst hat mich die reformierte Kirchgemeinde in Disentis angefragt, ob ich nicht das dortige Pfarramt übernehmen möchte. Ein Pfarramt notabene, mit dem eine diakonische Stiftung verbunden ist, die es zu führen gilt. Den Schritt erleichtert hat mir, dass ich das Sozialwerk Pfarrer Sieber finanziell, strukturell und personell gesund übergeben kann.

Erinnerst du dich an deinen ersten Kontakt mit dem SWS?

Das war vor über 20 Jahren während meiner Zeit als Leiter der Zürcher Stadtmission. Über unseren Diakon lernte ich Mirjam Spring kennen, die heute das Projekt Gassentierarzt betreut. Damals leitete sie die Sunestube und wir tauschten uns regelmässig über Klienten-Anliegen aus

Wann bist du Ernst Sieber erstmals begegnet?

Den ungewöhnlichen Pfarrer nahm ich als junger Mann während der Jugendunruhen zu Beginn der 1980er Jahre wahr. Zwar aus Distanz, aber mit bleibendem Eindruck, dank seinen Auftritten beim Wort zum Sonntag am Fernsehen.

Wie veränderte sich dein Bild von ihm während der sieben Jahre, die ihr zusammen gearbeitet habt?

Ich lernte ihn als Menschen mit vielen Facetten kennen. Er war weit mehr als das, worauf ihn die Medien reduzierten. Er hatte Ecken und Kanten. Und er hatte eine sehr sensible Seite. Den Blick in seine Seele gewährte er mir beim gemeinsamen Malen in seinem Atelier im Eutal. Das waren enorm kostbare Momente. Beeindruckt hat mich darüber hinaus seine Liebe für die Menschen auf der Gasse, die er Freunde nannte.

Was hat deine Zeit bei uns am meisten geprägt?

Neben der nicht immer einfachen, aber stets anregenden Zusammenarbeit mit Ernst Sieber prägte mich das gemeinsame Unterwegssein mit den uns anvertrauten Menschen und mit unseren Mitarbeitenden. Letztere erlebe ich als enorm einsatzwillige, beherzte und kompetente Vertreterinnen und Vertreter unserer Sache. Sie sind würdige Nachfolgerinnen und Nachfolger von Pfarrer Sieber.

Welche Veränderungen stellst du in der Stiftung bald 11 Jahre nach deinem Amtsantritt fest?

Ich konnte sicherlich dazu beitragen, dass wir heute tragfähige Strukturen haben. Dank Bereichsbildung, Professionalisierung und Strukturanpassungen gibt es heute weniger Leerläufe. Zudem konnten wir Parallelstrukturen, die unser Stiftungsgründer geschaffen hatte, erfolgreich und ohne Nebengeräusche integrieren. Ich habe leider auch lernen müssen, dass Pioniere den Wechsel zu strukturierten Alltagswerkern kaum je schaffen. So kam es zu einigen schmerzhaften Trennungen von Mitarbeitenden.

Ich persönlich wurde zu einer halböffentlichen Person; immer wieder sprachen mich fremde Menschen auf der Strasse an. Mir war stets wichtig, dass mein Tun und Sagen der Stiftung dient. Und damit den Menschen, für die wir da sind.

Was waren deine bewegendsten Momente?

Das einschneidendste Ereignis war für mich der Heimgang von Ernst Sieber und der Erinnerungsanlass auf dem Platzspitz. Dort wurde manifest, was der Pfarrer für unsere Gesellschaft war: eine Integrationsfigur sondergleichen. Es kamen Freunde von der Gasse ebenso wie Mitarbeitende der Stiftung, Politikerinnen, Kirchenräte und Künstler.

Ein zweiter wichtiger Moment war die Beerdigung meines ehemals obdachlosen Freundes Günter. Ich begriff, dass ich nun in Pfarrer Siebers Fussstapfen trat und fortan auch für den letzten Abschied von Freunden zuständig war.

Schliesslich zeigte mir meine Wahl in den Vorstand der Arbeitsgemeinschaft europäischer Stadtmissionen und in die CH-Delegation bei Eurodiaconia, dass unsere Arbeit auch über die Landesgrenzen hinaus beachtet wird.

Unvergessen bleibt mir, dass Barbara Ludwig (ehem. Leiterin des Geschäftsbereichs Schutz und Prävention der Stadt Zürich, Anm. d. Red.) zu mir sagte: «Weisst du, worum ich euch beneide? Dass ihr die Menschen umarmen könnt!»

2024 wird aller Voraussicht nach unser lang ersehnter Wunsch nach einem passenden Haus für das Fachspital in Erfüllung gehen. Wir werden das Pfarrer-Sieber-Huus in Zürich-Affoltern beziehen. Wurmt es dich nicht, dass du diesen Meilenstein nur noch als Gast miterleben wirst?

Nein, absolut nicht. Ich freue mich, wenn ich als Gast bei der Eröffnung dabei sein darf. Als das Zürcher Kirchenparlament im Februar den 38-Millionen-Baukredit guthiess, war für mich mein Anteil an der Aufbauarbeit abgeschlossen.

Wichtig ist mir, dass wir mit dem Pfarrer-Sieber-Huus eine Liegenschaft erhalten, die sich nach unseren Bedürfnissen richtet und nicht wir uns nach den räumlichen Gegebenheiten richten müssen. Dass ich mit anderen zusammen dieses Vorhaben anstossen durfte, macht mich glücklich.

Was gibst du uns mit auf den Weg?

Ich wünsche dem SWS, dass es weiterhin im Sinn seines Gründers diakonisch unterwegs ist. Der griechische Begriff Diakonos heisst übersetzt «der im Staub geht». Man muss sich bücken, um auf Augenhöhe mit Bedürftigen zu sein. Diese demütige und wurzelbezogene Wertehaltung möge bei aller nötigen Verschränkung von diakonischen Tugenden und Fachlichkeit so bleiben.

• Interview Walter von Arburg

Der Stiftungsrat hat die Demission Christoph Zinggs mit grossem Bedauern zur Kenntnis genommen, verliert die Stiftung mit ihm einen erfahrenen und versierten Fachmann mit grossem Herzen für notleidende Menschen. Der Stiftungsrat dankt Christoph Zingg für seinen Einsatz und wünscht ihm alles Gute an seinem neuen Wirkungsort.