Martin

Wenn ich morgens erwache, ist mein erster Gedanke: «Wie gut ich es doch habe!» Und ich bin einfach glücklich.

Ich lebe seit Frühling in einer kleinen Wohnung mit freundlichen Nachbarn und viel Ruhe. Ich fahre oft in die Stadt und sehe dort Menschen, die ich während meiner Obdachlosenzeit kennengelernt habe. Die meisten stecken noch tief im Elend und glauben mir nicht, dass ich trocken bin. Oft machen sie spöttische Bemerkungen. Aber ich nehme es ihnen nicht übel. Wie sollen sie auch glauben, wenn sie doch selbst immer wieder scheitern und sehen, dass es die meisten Süchtigen nicht schaffen. Ich bin mir ja selbst ein Rätsel. Ich hatte in der Vergangenheit mehrere Entzüge gemacht und war danach immer wieder abgestürzt. Warum es dieses Mal klappt? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich eines Morgens erwachte und zu mir sagte: «So geht es nicht weiter, Martin! Hör auf, sonst ist es bald zu Ende mit dir.» Von jenem Moment an rührte ich keinen Alkohol mehr an. Natürlich habe ich keine Garantie, dass es dieses Mal für immer klappt. Aber weil es sich anders anfühlt als bei früheren Versuchen, bin ich zuversichtlich.

Mit dem Drogenkonsum verhielt es sich ähnlich. Ich schaffte es, wegzukommen vom Heroin und dann gar vom Methadon. Diese Ersatzdroge ist noch heimtückischer als Heroin. Wenn du dieses Zeugs mal nimmst, kommst du noch schwerer davon los als vom Heroin. Zum Glück habe ich einen sturen Grind und mich den Ratschlägen der Ärzte widersetzt. Diese rieten mir, das Methadon weiterhin zu nehmen, weil sie sonst bei mir einen körperlichen und psychischen Zusammenbruch befürchteten. Der Weg war hart, der Entzug eine Tortur. Aber weil ich so hart dafür kämpfen musste, will ich mir den Erfolg nicht mehr wegnehmen lassen. Die Sucht soll mich nie mehr beherrschen!

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Das neue Leben ist wunderbar. Fast wie eine Droge. Nur positiver. Aber nicht ohne Probleme. So habe ich nun plötzlich viel mehr Zeit als früher. Leere Zeit spürst du nicht, wenn du alkoholsüchtig bist. Denn du dämmerst vor dich hin. Jetzt muss ich mir eine Beschäftigung suchen. Ich brauche eine Tagesstruktur, die mir Halt und Sinn gibt. Ich prüfe, mich einen Tag in der Woche freiwillig in einem Spital oder bei den Sieber-Werken zu engagieren. Die Arbeit in einem Spital kenne ich bestens. Ich schaffte es als Pflegefachmann ja bis zum stellvertretenden Stationsleiter, ehe ich wegen der Drogen- und Alkoholsucht den Job aufgeben musste. Pflegefachmann ist der geilste Job, den es gibt. Du hilfst Menschen in existenziellen Krisensituationen. Das ist sinnvoll und beglückend.

Ich kann mir aber auch vorstellen, bei den Sozialwerken von Pfarrer Sieber mitzuwirken. Neben meiner Beiständin gaben mir die Mitarbeiter im Pfuusbus und im Sune-Egge in meiner dunkelsten Zeit Halt. Das vergesse ich Ernst Sieber und seinen Leuten nie. Wenn ich mich bei ihnen engagierte, könnte ich etwas von dem zurückgeben, was ich von ihnen während Jahren an Menschlichkeit und Unterstützung erhalten habe. Weil ich viele Gassenleute kenne und sie mich, könnte ich ihnen ein hoffnungsvolles Beispiel sein und sie ermutigen. Sie, die meist schon viele erfolglose Ausstiege hinter sich und resigniert haben. Ich würde es ohne Druck machen. Denn das habe ich als Obdachloser und Süchtiger gelernt: Druck bringt gar nichts. Es muss die Überzeugung reifen, dass es nicht anders geht. Du musst durchs Tal der Tränen, sonst erreichst du das Land der Freiheit nie.» 

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