Michael

Leid ist bei uns oft unsichtbar.

«Wenn du ein obdachloser Junkie bist, dann hast du in unserer Gesellschaft die Arschkarte gezogen. Alle denken, dass du selbst schuld bist an deinem Zustand. Ob ich Mitleid will? Nein, es geht um Mitmenschlichkeit. Denn wir sind keine Unwesen, auch wenn sich Süchtige und Obdachlose in ihrem Überlebenskampf manchmal unschön benehmen. Aber keiner wählt dieses Leben wirklich freiwillig. Davon bin ich überzeugt. Ich zum Beispiel hatte das Pech, in eine unglückliche Familiensituation hineingeboren zu werden. Ich war das zweite Kind meines Vaters und seiner zweiten Frau. Unglücklich war, dass mein Vater mich verachtete und meinen Bruder stets bevorzugte. Meine Mutter hielt zwar zu mir. Zu ihr habe ich den Kontakt nie abgebrochen und besuche sie nun zweimal wöchentlich und mache ihr den Haushalt. Aber gegen den Hass meines Vaters war meine Mutter machtlos. Immer wieder schlug er mich, ich musste deswegen in meiner Jugend fünfmal ins Spital. Warum er mich hasste, wurde mir erst mit 11 klar, als er mich vor meinen Schulgspänli eine Missgeburt nannte, weil ich eigentlich ein Mädchen hätte geben sollen.

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Es war dieses Gefühl, ungeliebt zu sein, das mich zutiefst schmerzte und verunsicherte. Mit 12 begann ich zu kiffen, mit 13 kam Kokain dazu, mit 15 Heroin. In den Drogen suchte ich das Gefühl der Geborgenheit, das ich zuhause nicht bekam. Meine schulischen Leistungen waren entsprechend mager, es reichte für eine Maler-Anlehre. Mit dem Lohn konnte ich meinen Konsum natürlich nicht finanzieren. So begann ich zu stehlen und zu dealen. Mit Gewalt verschaffte ich mir wenigstens etwas Respekt in der Szene. Gewalt war meine Überlebensstrategie. Immer wieder erwischte mich die Polizei. Ich sass 17 meiner bislang 50 Jahre im Gefängnis. Ich verstehe ja schon, dass man alle gleich behandeln muss, die kleinen Fische wie mich, und die grossen Wirtschaftskriminellen. Aber im Gefängnis lernt man nichts Gutes. Ich denke, es hätte sinnvollere Strafen für mich gegeben, als diese dumme Absitzerei.

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Als ob es mich nicht gäbe.

Während sechs Jahren war ich obdachlos. Immer wieder habe ich erlebt, wie abschätzig Obdachlose und Süchtige von der Gesellschaft behandelt werden. Ein Beispiel? Kannst du haben. Einmal stürzte ich auf der Rolltreppe ins Shoppville und blieb unten liegen. Die Leute machten einen Bogen um mich herum oder wandten sich demonstrativ ab. Als ob es mich nicht gäbe. Niemand half mir. Erst nach vielleicht zehn Minuten fragte mich ein 16-jähriges Mädchen, ob es mir helfen könne. Das war wie ein Sonnenstrahl an einem kalt-grauen Novembertag. Aber die Geringschätzung der anderen tat und tut weh. Ich bin doch nicht aussätzig!

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Wegen der Sauferei hatte ich meine erste Freundin verloren, die ebenfalls Alkoholikerin war. Ihr Tod rüttelte mich auf. Aber der Wille ist das Eine, die Macht der Drogen das Andere. Die meisten zerbrechen an der Sucht. Es grenzt für mich an ein Wunder, dass ich vom Alkohol und den Drogen losgekommen bin. Gelungen ist es mir hier im Sunegarte in Egg. Vielleicht liegt es an der idyllischen Umgebung über dem Greifensee und der Distanz zur Stadt. Sicher aber am wohlwollenden Team. Jedenfalls fühle ich mich hier erstmals seit langem geborgen und ruhig. Hier bin ich auch von meiner Wut weggekommen. Der Psychotherapeut im Spital Sune-Egge, zu dem ich zweimal wöchentlich gehe, tut mir gut. Er hilft mir, mich mit meiner Vergangenheit zu versöhnen. Das schmerzt. Aber es hilft mir. Bislang sah ich im Leben alles schwarz und weiss. Nun wird das Leben farbiger. Ich weiss nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie ungewohnt das für mich ist.»

Aufgezeichnet von Walter von Arburg

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